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Brief an meine Schüler

oder: Wie man einen Interpretationsaufsatz schreibt

Liebe Schülerinnen und Schüler,

dieser allgemeine Brief gilt für alle bis zum Abitur vorkommenden Arten von Interpretationsaufsätzen (Kurzgeschichte, Romanausschnitt, Gedicht, Dramenszene). Die Hinweise zu den speziellen Fällen stehen woanders.
    Um die drei Anforderungsbereiche abzudecken, lauten die Aufgaben in der Regel "Analysieren und interpretieren Sie ...", manchmal gebe ich auch noch einen "Arbeitshinweis". Der soll eine Hilfe sein und Sie nicht ärgern.
    Laut der EPA bedeuten die beiden Begriffe Folgendes: "analysieren = aus einem vielfältigen Ganzen Einzelbestandteile untersuchen und dem Erkenntnis und Darstellungsinteresse gemäß geordnet darstellen" und "interpretieren = Deuten/Werten eines literarischen Textes auf der Grundlage der Analyse".
    Diese hochtrabenden Sätze meinen zunächst etwas ganz Einfaches:
    Einerseits sollen Sie ordentlich aufgeschreiben, was in dem Text "drinsteht" und wie er "gemacht" ist. Vornehmer ausgedrückt: Inhalt und Form sind zu beschreiben, und hier gibt es nicht viel zu diskutieren: Das können Sie trainieren.
    Andererseits sollen Sie herauskriegen, "was das alles soll", warum der Text geschrieben wurde, warum er nicht überflüssig ist, wieso es mehr Sinn macht, ihn zu lesen als das Papier zum Grillanzünden zu verwenden. Vornehmer ausgedrückt: Die Aussageabsicht oder die Intention des Textes ist zu benennen, und hier dürfen Sie auch eine persönliche Wertung vornehmen.
    Der Inhalt stellt Ihnen nur noch selten Probleme. Inhaltsangaben funktionieren, krasse Missverständnisse sind die Ausnahme. Aber das interessiert mich auch gar nicht mehr so sehr; die Inhaltsangabe wird in Klasse 8 abgehakt. Das können Sie.
    Was die Form angeht, so ist vieles in der 11 zwar neu für Sie, aber das haben Sie geübt und Sie können aufschreiben: Da ist zeitdeckendes Erzählen, dort ist ein Kommentar des auktorialen Erzählers, und hier merkt man, wie beschränkt die Perspektive von Gregor ist.
    Erfahrungsgemäß ist entscheidend, dass Sie sich wundern lernen über die Form. Es darf Ihnen nicht mehr selbstverständlich vorkommen, wie einer schreibt, was er schreibt! Es ist alles ausgedacht, getrickst, mit Absicht so verfasst; der Autor war nicht blöd, sondern bestimmt cleverer als wir alle zusammen, die ihm hartnäckig auf der Spur sind. Und wenn Sie jetzt erklären, warum der Autor gerade die Form für den Inhalt genommen hat: Dann haben Sie interpretiert.
    Dann schreiben Sie nämlich nicht: "Äh, also da wird so ein junger Mann zum Käfer, komisch eigentlich, warum bloß. Und der ist auch ziemlich blöd, der Käfer meine ich, und der sieht auch nicht sehr viel und man versteht auch gar nicht, worum es da geht."
    Sondern Sie schreiben: "Gregor Samsa verwandelt sich in einen Käfer: Der junge Mann zieht sich zurück, er steigt aus und will nicht mehr mitmachen. Er legt sich einen Panzer zu, weil ihn diese Familie verletzt hat. Und der Leser geht mit ihm auf diese Reise in eine ganz düstere Innenwelt. Die fast durchgehend verwendete personale Erzählsituation macht die tragisch-eingeschränkte Perspektive dieses jungen Mann fast körperlich spürbar." Keine Ahnung, ob das wirklich stimmt, aber es klingt doch gut, oder?
    Als ich neulich auf dem Parkplatz vorm Supermarkt meinen alten Deutschlehrer traf, fragte ich ihn, wie er mir das Interpretieren beigebogen habe, das müsse ich nun meinerseits Schülern erklären und ich hätte keine Ahnung wie. Er antwortete: "Ich weiß es nicht. Ich habe immer gebetet, dass meine Schüler es verstehen, und manche haben's verstanden, und manche nicht. Warum weiß ich nicht."
    Interpretieren ist ein kreativer Akt, wie Malen, Musizieren oder Lieben; und das meine ich ernst: Es kann Spaß machen. Ich wünsche Ihnen viel Glück dabei.