Aufgabe: Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein wurde Schillers Lied von der Glocke von praktisch allen deutschen Schülern auswendig gelernt. Erklären Sie die Gründe dafür und nehmen Sie aus heutiger Sicht Stellung dazu.

Fast alle deutschen Schüler mussten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Glocke auswendig lernen. Der Text hat also eine einzigartig erfolgreiche Rezeptionsgeschichte vorzuweisen. Warum dies so war, werde ich hiermit versuchen zu erläutern.

Schiller veröffentlichte Das Lied von der Glocke im Jahre 1799. Er gestaltete dies Gedicht als Loblied für die menschliche Zusammenarbeit und als Lehrgedicht über die Vorteile bürgerlichen Zusammenhaltes.

Einen großen Teil des Textes nimmt die Beschreibung der Handwerkskunst des Glockengießens ein. Es werden die einzelnen Tätigkeiten ganz genau beschrieben. Die Schüler sollen angeregt werden, sich am Fleiß der Glockengießer ein Beispiel zu nehmen.

Dass Schiller ein angesehener Dichter zu dieser Zeit war, könnte ein weiterer Grund dafür gewesen sein, dass die Glocke auswendig gelernt wurde. Der Text spiegelt deutlich die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verhältnisse der Zeit wieder. Alle sollten wissen, wie Schiller eine gut funktionierende Bürgerschaft sah, und sollten sich danach richten und ihr Leben entsprechend gestalten. Die gesellschaftliche Lage wird uneingeschränkt positiv dargestellt, ebenso das herrschende Machtverhältnis als einzig richtiges und sinnvolles, wenn der Zusammenhalt funktionieren soll: All diese Wertvorstellungen übernahmen die Schüler durch das stupide Auswendiglernen.

Das wichtigste mögliche Argument ergibt sich für mich aus der genauen Darstellung der Aufgaben von Mann und Frau, von Sohn und Tochter in der Familie. Nach diesem Idealbild einer Familie werden die Jugendlichen auch von ihren Eltern erzogen. Sätze wie "Der Mann muß hinaus / Ins feindliche Leben, / Muß wirken und streben" (V. 106-108) oder "Und drinnen waltet / Die züchtige Hausfrau, / Die Mutter der Kinder" (V. 116-118) sind doch eindeutige Rollenzuweisungen, nach denen sich die Deutschen Jahrhundert lang gerichtet haben. Und ist dies Bild heute, über zweihundert Jahre später, wirklich überall vollständig überwunden?

Aufgrund der genannten Argumente ist nachvollziehbar, warum die Lehrer bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Glocke im Unterricht behandelten. Gegen das Auswendiglernen von Gedichten ist an sich nichts auszusetzen, wenn jedoch den Schülern dadurch fremde Meinungen und fremde Wertvorstellungen aufgezwungen werden, finde ich dies nicht gut.

Die Schüler sollten durch Gedichte zu eigenen Gedanken angeregt werden und Mut zu Veränderungen finden.

(Verfasserin: Katherina S., 04/2003, ca. 380 W.)