Eine Beispiel-Klausur (Bearbeitungszeit: 2 Unterrichtsstunden), die man in 90' kaum umfassender schreiben kann. Vor allem sind die (fett gedruckten) Fragestellungen richtig gewählt.

Textvorlagen: Anfänge des Romans "Soll und Haben" von Gustav Freytag und der Kurzgeschichte "In der Finsternis" von Heinrich Böll

Die Aufgabe lautete:
Analysieren und interpretieren Sie vergleichend die beiden Erzähltextanfänge, die mit ungefähr 100 Jahren Abstand geschrieben wurden. Arbeiten Sie die unterschiedlichen Aussageabsichten heraus.


"Soll und Haben" ist ein Roman, der in sechs Büchern von Gustav Freytag geschrieben wurde und 1855 zum ersten Mal erschienen ist. Ich habe jedoch nur einen Auszug vor mir. Genauer gesagt handelt es sich dabei um den Anfang des Erzähltextes. Des weitern habe ich den Anfang des Textes "In der Finsternis" vor mir. Dieser Text ist eine der Kurzgeschichten aus der Sammlung "Wanderer, kommst du nach Spa...", die 1950 von Heinrich Böll geschrieben wurde und 1967 erschienen ist.

Wie man an den Zahlen der Erscheinungsjahre erkennen kann, sind die beiden Texte mit ungefähr 100 Jahren Abstand geschrieben. Meine Aufgabe ist es nun die Erzähltextanfänge miteinander zu vergleichen.

Gibt es Gemeinsamkeiten, welche Unterschiede gibt es? Behandelt die Erzählliteratur 1855 die gleichen Themen wie 1950? Bewirken die Texte vielleicht völlig verschiedene Dinge? Rufen sie beim Leser unterschiedliche Gefühle oder Gedanken hervor? Haben beide Texte die gleiche Aussageabsicht? All diese Fragen möchte ich in meiner Arbeit versuchen zu beantworten.

Im Text von Freytag wird die Geschichte einer Familie erzählt. Es wird berichtet, wie - nach langem vergeblichen Hoffen - endlich ein Sohn "Anton" zur Welt kommt. Im Verlauf des Textes wird erzählt, wie Anton sich entwickelt und zu einem Stolz seiner Familie wird.

Der Text von Böll behandelt ebenfalls die Geschichte eines Mannes. Diese Geschichte ist aber begrenzt auf einen einzigen Tag. Der Mann ist im Krieg und bekommt im Lager von seinen Mitmenschen den rauen Umgangston der Soldaten zu spüren.

Betrachten wir die Geschichten nun etwas näher:

Im Text von Freytag wird ein starkes Wertesystem vermittelt. "Der Mensch ist gut, solange er arbeitet und fleißig ist". Erzählt wird von einem auktorialen Erzähler, der typisch ist für die damalige Zeit. Spüren kann man diesen auktorialen Erzähler an seinen Beschreibungen zu der gesamten Familie. Er steht wie ein Standbild über der gesamten Geschichte und beurteilt alles, was "da unten" so abläuft. Es werden zahlreiche Adjektive (z.B. "unverfälschter Honig "Z.6, "untadelhafte Wäsche" Z.16) benutzt um Situationen besser und bildhafter darzustellen - ganz im Gegensatz zur Geschichte von Heinrich Böll- .

Auffällig ist, dass diese Adjektive sehr positiv sind und eine freundliche, befreite Atmosphäre schaffen. Die gesamte Geschichte ist so wie das Leben der Menschen in der Zeit: in Ordnung. Sie haben keinen Krieg, nichts dergleichen, so merkt man: Das einzige Problem der Familie scheint zu sein, dass der Sohn nicht richtig isst und mit der Mütze des Vaters spielt. Weitere Probleme haben sie nicht. Einziges Streben ihres Lebens ist, dem hoch angelegten Wertesystem der Gesellschaft gerecht zu werden. So möchten sie auch ihren Sohn erziehen. Das ist alles, wofür die Menschen der damaligen Zeit kämpfen. Die Geschichte gibt keinerlei Anlass zu negativen oder gar dunklen Gedanken, denn "unartig war [Anton] so selten" und wenn er etwas erzählt, tut er das "mit so viel Gravität und Anstand", dass es für die Familie eine reine Freude ist. Auch durch Wörter wie "Held", "der Held dieser Erzählung"(Z.17) merkt man diese positive Stimmung der Geschichte ganz deutlich. Alle glauben an Gott, die Welt ist in Ordnung. Das sieht zumindest Freytag - als Vertreter des Bürgertums - so.

Ganz anders sieht es jedoch im Text von Heinrich Böll aus. Dieser Text beschreibt die Geschichte , ja gar das Leben eines Mannes im Krieg. Man braucht nur einen einzigen Tag aus dem Leben eines Soldaten beschreiben und man kennt sein ganzes Leben.

Tagein tagaus dieselbe Situation, dasselbe Leid. Jeden Tag stirbt jemand, vielleicht der beste Freund. Jeden Tag der Gedanke, wann man selbst an der Reihe ist. Dass es im Text wirklich um Krieg geht, sieht man meiner Meinung nach bereits in der zweiten Zeile. Alle benutzten Adjektive "seltsam, so furchtbar sinnlos" (Zeile 44) vermitteln sofort eine dunkle, angsteinflößende, düstere Stimmung beim Leser. Als dann "der Leutnant" in Zeile 51 "auftaucht", ist eindeutig klar, dass es sich nur um eine Geschichte in Kriegszeiten handeln kann.

Die Personen haben nicht einmal Namen, alle sind im Krieg gleich. Es hätte schließlich jeder sein können. Unterschieden wird nur in "der Jüngere" (Z.62) und "der Ältere"(Z.62) und doch ist es wieder keine richtige Unterscheidung, denn beide sind "blaß und schmal und [haben] ein Niemandsgesicht" (Z.63). Der Ältere und der Jüngere werden durch Wiederholung exakt gleich beschrieben. Da bei dem Älteren noch gesagt wird, dass er unrasiert ist, könnte man sich die Frage stellen, ob der Jüngere vielleicht noch so jung ist, dass ihm gar kein Bart wächst, also ein Kind! Eine erschreckende Vorstellung!

Der Erzähler ist auktorial und kann dadurch den Leser die Atmosphäre sehr gut nahe bringen (insbesondere durch sehr negative Adjektive, Wiederholung der Beschreibungen, ...). Obwohl der auktoriale Erzähler zu der Zeit etwas untypisch ist, führt er den Leser hier, wie eine helfende Hand durch die Geschichte. Auffällig - im Gegensatz zum Text von Freytag - ist, dass vieles durch direkte Rede wiedergegeben wird. Der harte Umgangston der Mitmenschen in der damaligen Zeit wird in der Geschichte stark hervorgehoben und verdeutlicht die schlimme Situation der Menschen im Krieg.

Man kann, denke ich, sagen, dass die beiden Texte wie Gegensätze zu behandeln sind. Im Text von Freytag: Freunde, keine großartigen Probleme, es gibt Helden. Doch sieht man sich den Text von Böll an, sieht man ganz deutlich, was anders ist: Es gibt keine Helden!

Man hat Probleme, sehr große sogar. Böll zeigt, dass in Kriegszeiten ein ganz anderes Wertesystem vermittelt wird. Es geht nicht darum, dass man fleißig ist und etwas schafft. Nein, es geht ums bittere Überleben, denn jeder Tag kann der letzte sein. Hier wird gezeigt, dass es nur Befehle gibt, denen man Folge zu leisten hat. Auch werden die sprachlichen Mittel ganz anders eingesetzt. Die Sätze im ersten Text sind lang, verschachtelt und trotzdem leicht zu verstehen. Schaut man sich einmal den Dialog des zweiten Textes an, so sieht man, dass es gar kein richtiges Gespräch ist. Völlige Sprachlosigkeit. Man wirft seinen Mitmenschen ein paar Worte zu, denn meist findet man nicht die richtigen Worte für ein richtiges Gespräch.

Abschließend muss ich feststellen, dass ich nicht gedacht hätte, dass sich Texte und vor allem die Themen der Texte in nur 100 Jahren so gravierend ändern können. Freytag möchte zeigen, wie schön das Leben allgemein ist und wie schwer es manchmal sein kann ein Kind zu erziehen, sodass es der Gesellschaft gerecht wird und sich in ihr zurecht findet. Das sagt auch schon der Titel: "Soll und Haben" aus, bin ich der Meinung. Wie soll es sein, was habe ich davon, was muss ich also noch tun, damit ich das "Soll" erfülle.

Die Aussageabsicht von Böll ist jedoch eine ganz andere. Die Autoren der Nachkriegszeit können nicht mehr über "tolle" Ereignisse schreiben, denn es gibt sie nicht mehr. Man kann einfach nur noch schreiben, wie mies es einem geht. Und Böll beschreibt nun in kurzer, aber intensiver und eindringlicher Weise die Situation, das Elend und Leid der Menschen damals im Krieg.

Ich denke jeder der Texte ist auf seine Art gut und beschreibt einen Teil der Zeit, in der er geschrieben wurde. Damit sind beide Texte für mich wichtig um auch späteren Generationen zu zeigen, wie es früher einmal war.

(ca. 1150 Wörter)